Nordrhein-Westfalen und Polen: Gemeinsam erinnern und an der Zukunft Europas bauen

Antrag der Fraktionen von CDU, SPD, FDP und GRÜNEN im Landtag

I. Ausgangslage

„Wenn mir jemand, vor 60 Jahren, als ich geduckt auf dem Appellplatz des KZ Auschwitz stand, gesagt hätte, dass ich Deutsche, Bürger eines demokratischen und befreundeten Landes als Freunde haben werde, hätte ich ihn für einen Narren gehalten.“ Dieser Satz von Polens Ex-Außenminister Władysław Bartoszewski in einem Interview mit der „Gazeta Wyborcza“ im Jahre 2009 bringt ganz deutlich zum Ausdruck, welch ein Geschenk die deutsch-polnische Freundschaft ist. Nach den  insbesondere vom Deutschen Reich zu verantwortenden verheerenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts mit Krieg und Gewalt aber auch Flucht und Vertreibung, war es keineswegs selbstverständlich, dass Polen und Deutsche heute als Freunde und Partner in einem vereinten Europa leben würden.

Und dennoch sind diese Menschen wieder aufeinander zugegangen, denn sie erkannten, dass es eines Neuanfangs bedarf. Der Abschluss der Ostverträge und die Gesten der Versöhnung in der sozial-liberalen Koalition trugen mit dazu bei, dass sich der Eiserne Vorhang Stück für Stück öffnen konnte. Der Kniefall  von Bundeskanzler Willy Brandt vor dem Warschauer Ghetto-Ehrenmal am 7. Dezember 1970 war ein wichtiges Zeichen der Versöhnung und Grundlage für eine neue deutsch-polnische Zusammenarbeit. Das Wirken vieler Menschen auf beiden Seiten, in politischen Institutionen, in den Kirchen und in der Zivilgesellschaft, hat die deutsch-polnische Aussöhnung möglich gemacht. Mit seinen Äußerungen legte z. B. Papst Johannes Paul II. während seiner ersten Reise in seine polnische Heimat im Juni 1979 einen Grundstein für den ein Jahr später einsetzenden Freiheitskampf der „Solidarność”. Dieser trug seinerseits maßgeblich zur Überwindung der kommunistischen Diktaturen in Osteuropa bei, zum Fall des Eisernen Vorhangs in Europa und bereitete mit den Weg zur deutschen Wiedervereinigung.

Deutsche und Polen waren, sind und bleiben unmittelbare Nachbarn in Europa. Gerade Nordrhein-Westfalen verbindet mit Polen eine Jahrhunderte lange gemeinsame Geschichte. Wir erinnern bespielhaft an die Zuwanderungsbewegung ins Ruhrgebiet infolge der Arbeitsmigration im 19. Jahrhundert. Heute leben in Nordrhein-Westfalen über 650.000 Polinnen und Polen sowie Personen polnischer Herkunft. Über 4.600 Kinder lernen an nordrhein-westfälischen Schulen Polnisch als Herkunftssprache. Die „Polonia” mit ihren Verbänden, kulturellen Institutionen und kirchlichen Gemeinden trägt zum guten Miteinander in unserem Land bei.

Aktuell bilden Polen die zweitstärkste Einwanderergruppe in Nordrhein-Westfalen.  Die besonderen Beziehungen zu Polen kommen in der Regionalpartnerschaft mit der Woiwodschaft Schlesien zum Ausdruck, die wiederum in die Zusammenarbeit innerhalb des Regionalen Weimarer Dreiecks, d.h. der Partnerschaft des Landes Nordrhein-Westfalen, der Woiwodschaft Schlesien und der französischen Region Hauts-de-France eingebettet ist. Knapp 100 Kommunalpartnerschaften und über 200 Schulpartnerschaften sind Zeugnis des gegenseitigen Interesses und der wachsenden Verständigung zwischen Polen und Deutschen. Diese Partnerschaften weiter zu befördern und auszubauen ist ein besonderes Anliegen.

Die Erinnerungskultur und insbesondere die Gedenkstättenarbeit ist und bleibt ein wesentlicher Bestandteil des deutsch-polnischen Verhältnisses. Gemeinsam zu erinnern und zu gedenken trägt dazu bei, den jeweils anderen und seine Sicht der Dinge zu verstehen. Die Dokumentationsstelle zur Kultur und Geschichte der Polen in Deutschland, die „Porta Polonica“, erforscht und dokumentiert die Spuren und Einflüsse des polnischen Lebens in Deutschland. Gleichzeitig versteht sie sich als Forum für die in Deutschland lebenden Polen. Sie bildet eine digitale Plattform zur Vernetzung und zum Austausch und leistet damit einen Beitrag zur aktiven Mitgestaltung der Erinnerungskultur.

Ebenso kann und sollte auch eine kritische Auseinandersetzung mit aktuellen rechtsstaatsbezogenen Entwicklungen unter befreundeten Staaten möglich sein ohne die guten Beziehungen zu gefährden. .

In diesem Jahr ist der deutsch-polnische Kalender gut gefüllt. Mehrere wichtige Jubiläen gilt es zu würdigen, die auch die nordrhein-Westfälische Paten- und Partnerregion in den Fokus stellen.

Nach der Öffnung der Berliner Mauer am 9. November 1989 und somit dem Zusammenbruch der DDR-Diktatur, herrschte in Polen viel Unsicherheit darüber, wie das Streben nach einer Wiedervereinigung auf deutscher Seite aussehen würde. Deshalb war es ein wichtiges Zeichen, dass Bundeskanzler Helmut Kohl seine Polen-Reise nach der Unterbrechung fortgesetzt hat und es in Kreisau bei der so genannten Versöhnungsmesse zum Friedensgruß mit dem damaligen polnischen Premier Tadeusz Mazowiecki kam. Dies war die Grundlage dafür, dass – nach der Unterzeichnung des deutsch-polnischen Grenzvertrages – der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag unterschrieben und am 17. Juni 1991 in Kraft treten konnte. Der Vertrag bildet das Fundament für die kulturelle, wissenschaftliche, wirtschaftliche oder auch gesellschaftspolitische Zusammenarbeit beider Länder. Das 1991 gegründete deutsch-polnische Jugendwerk hat in den letzten 30 Jahren über 80.000 deutsch-polnische oder trilaterale Projekte unterstützt. Seine Finanzierungsmöglichkeiten waren Grundlage für die Begegnung von über drei Millionen Jugendlichen.

Mit der Gemeinsamen Erklärung zur Zukunft Europas von den Außenministern Deutschlands (Genscher), Frankreichs (Dumas) und Polens (Skubiszewski) am 29. August 1991 wurde das „Weimarer Dreieck“ begründet. Es entstand durch die Überzeugung, dass für eine gute Zukunft Europas eine stärkere Zusammenarbeit der drei Nachbarländer notwendig sei. Das Weimarer Dreieck hat die Eingliederung Polens in die politischen Strukturen der Europäischen Union erfolgreich unterstützt.

Auf der Ebene der Zivilgesellschaft hat der trilaterale Austausch zunehmend an Bedeutung gewonnen – sei es in Form von Städtepartnerschaften, Jugendbegegnungen oder Kulturveranstaltungen. Die Zivilgesellschaft Deutschlands, Polens und Frankreichs steht gemeinsam für das noch engere Zusammenwachsen unseres Kontinents. In Nordrhein-Westfalen wurde 2001 das Format des „Regionalen Weimarer Dreiecks“ begründet, in dem neben unserem Bundesland die Woiwodschaft Schlesien (Polen) und die Region Hauts-de-France (ehemals Nord-Pas-de-Calais) zusammengeschlossen sind. Die Regionen verbinden viele Ähnlichkeiten, insbesondere des Strukturwandels von der Montanindustrie hin zu Dienstleistungsstandorten. Neben der Industriekultur hat das Regionale Weimarer Dreieck heute drei Schwerpunkte: Jugend, Kultur und der Expertenaustausch. Es finden zu diesen Themen gemeinsame Projekte statt. Besonders erwähnenswert ist der jährliche Jugendgipfel, der abwechselnd in den Regionen stattfindet. Aus Anlass des Doppeljubiläums – 20 Jahre Regionales Weimarer Dreieck und 30 Jahre Weimarer Dreieck – wurde das Frankreich-Polen-Nordrhein-Westfalen Jahr 2021/2022 ausgerufen. In diesem Rahmen wurden vom Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten sowie Internationales Wettbewerbe ausgeschrieben, an denen sich viele Akteure aus ganz Nordrhein-Westfalen mit Ideen zu bi- und trilateralen Projekten beteiligen können.

II. Beschlussfassung

Der Landtag stellt fest:

  • Die deutsch-polnische Freundschaft ist ein Geschenk der Geschichte. Die Beziehungen zu Polen genießen für Nordrhein-Westfalen einen hohen Stellenwert.
  • Der Landtag dankt ausdrücklich der Zivilgesellschaft, den Vereinen, Verbänden, den Kirchen, den Kommunen, Bildungsträgern, Schulen und wissenschaftlichen Institutionen, aber auch den vielen Einzelpersonen auf beiden Seiten, die sich einander zugewandt und der Annäherung, Versöhnung sowie Freundschaft verschrieben haben.
  • Gerade in Anbetracht der mittlerweile gefestigten Freundschaft beider Länder gilt es, sich weiter mit der gemeinsamen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Die gemeinsame Arbeit mit wissenschaftlichen Einrichtungen sowie die Gedenkstättenarbeit leisten hier einen besonderen Beitrag. Deshalb plädieren wir für ein stärkeres gemeinsames Gedenken.
  • Die Rechtsstaatlichkeit ist das Fundament der europäischen Werteordnung und besitzt einen hohen Stellenwert in der Europapolitik des Landes. Die Einhaltung rechtsstaatlicher Grundsätze ist für gegenseitiges Vertrauen und damit für die EU essentiell. Die Grundwerte der EU stehen nicht zur Disposition.
  • Die Grundlage für die Überwindung des Eisernen Vorhangs, den Fall der Berliner Mauer war mitunter die Freiheitsbewegung der polnischen Bevölkerung, die sich in der „Solidarność” ausdrückte.
  • Der deutsch-polnische Nachbarschaftsvertrag stellt seit 30 Jahren eine stabile Grundlage für die deutsch-polnische Zusammenarbeit dar, dessen Umsetzung durch viele Akteure getragen wird. Seit 1991 sind zahlreiche neue Fragestellungen aufgekommen, bei denen deutsch-polnische Zusammenarbeit einen Beitrag leisten kann, darunter europäische Sicherheit oder Klimapolitik.
  • Der Landtag hebt die Rolle von öffentlichen Institutionen und Gremien hervor, die das deutsch-polnische Verhältnis mitgestalten: Das Deutsch-Polnisches Jugendwerk, die Stiftung für Deutsch-Polnische Zusammenarbeit, das Haus für deutsch-polnische Zusammenarbeit. oder die Deutsch-Polnische Regierungskommission für grenznahe und interregionale Zusammenarbeit, in der die Landesregierung Nordrhein-Westfalen mitarbeitet.
  • Der Landtag erkennt die wichtige Rolle von Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern und ihren Institutionen sowie von polnischstämmigen Personen und in Nordrhein-Westfalen lebenden Polinnen und Polen und ihren Institutionen als natürlichen Brückenbauer zwischen den beiden Ländern an. Seit 1964 hat das Land Nordrhein-Westfalen die Patenschaft über der Landmannschaft der Oberschlesier inne und unterstützt die von ihr getragenen Institutionen (Stiftung Haus Oberschlesien, Oberschlesisches Landesmuseum). Sowohl der Polonia, als auch den Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern stehen von der Landesregierung beauftragte Ansprechpartner zur Verfügung.
  • Nordrhein-Westfalen ist seit über 20 Jahren durch eine Regionalpartnerschaft mit der oberschlesischen Woiwodschaft Schlesien verbunden.
  • Der Landtag begrüßt, dass die Landesregierung mit dem Marschallamt der Woiwodschaft Schlesien ein neue Gemeinsame Erklärung im Geiste des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages erarbeitet hat, die für die nächsten Jahre eine Grundlage für die bilaterale Zusammenarbeit bilden wird.
  • Die Kooperation Deutschlands, Frankreichs und Polens im so genannten „Weimarer Dreieck” ist eine gute und bewähre Einrichtung. Auf regionaler Ebene unterstützen wir die regionale Zusammenarbeit des Landes Nordrhein-Westfalen mit der Region Hauts-de-France und der Woiwodschaft Schlesien. Der Landtag unterstützt alle Bestrebungen, dieses Format weiter zu leben und auszubauen.

Der Landtag beauftragt die Landesregierung:

  • Vor dem Hintergrund des Jubiläums des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages die Bemühungen um die Vermittlung von Kenntnissen über die Vergangenheit wie auch über die jüngste Geschichte zu stärken, für gemeinsames Gedenken und Erinnern einzutreten und sichtbare Beiträge zur deutsch-polnischen Erinnerungskultur zu leisten.
  • Weiterhin die zivilgesellschaftlichen Akteure, die im deutsch-polnischen Verhältnis aktiv sind, sowie engagierte Kommunen, Schulen und Kulturinstitutionen, die die deutsch-polnische Nachbarschaft mit Leben füllen, mit vielfältigen Formaten zu unterstützen.
  • Das Jubiläum des deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrages zu nutzen, um an geeigneten Stellen dafür zu werben, dass sowohl die deutsche Minderheit in Polen, als auch die Gemeinschaft polnischstämmiger Menschen sowie Polinnen und Polen in Deutschland ihre Kultur und Identität pflegen und erhalten können.
  • Die Einrichtungen von Heimatverbliebenen, Heimatvertriebenen, Aussiedlern und Spätaussiedlern, als auch die Einrichtungen der Polonia weiterhin bei ihrem Transformationsprozess zu unterstützen.
  • Die Patenlandsmannschaft der Oberschlesier und ihre Institutionen (Stiftung Haus Oberschlesien und Oberschlesisches Landesmuseum) weiterhin aktiv in die Regionalpartnerschaft mit der Woiwodschaft Schlesien einzubinden.