Naturschützerinnen und Naturschützer ernst nehmen – Volksinitiative Artenvielfalt um­setzen!

Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und GRÜNEN

Portrait Norwich Rüße

I. 115.000 Stimmen für mehr Anstrengungen im Artenschutz

Fast ein Jahr hat die „Volksinitiative Artenvielfalt NRW“ Unterschriften gesammelt. Unterstützt von einem breiten Bündnis aus fast 100 Organisationen und einem enormen ehrenamtlichen Engagement ist es der Volksinitiative Artenvielfalt gelungen, weit über das gesetzliche Quorum von rund 66.000 Unterschriften hinaus die Zustimmung der Bevölkerung zu gewinnen. 115.035 Bürgerinnen und Bürger gaben der Volksinitiative – unter von der Corona-Pandemie erschwer­ten Bedingungen – ihre Stimme. Die Menschen zeigten so, dass ihnen der Erhalt der Arten­vielfalt ein besonderes Anliegen und eine Zukunftsfrage ersten Ranges ist. Das Artensterben treibt die Menschen um, denn sie spüren, dass hier vieles bedroht und vieles schon unwieder­bringlich verlorengegangen ist.

Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes war der Naturschutz Thema einer Volksinitia­tive. Diese Initiative steht in einer Reihe mit den Insektenschutz- und Artenvielfaltsinitiativen in Bayern, Baden-Württemberg, Niedersachen und Brandenburg. Überall dort, wo ähnli­che Volksbegehren oder Volksinitiativen auf den Weg gebracht wurden, sind in der Folge wich­tige Debatten entstanden und es kam zu konkreten Beschlüssen und Veränderungen. Auch die Volksinitiative in NRW hat konkrete Vorschläge für ein ‚Handlungsprogramm Artenvielfalt NRW‘ vorgelegt. Die Initiatoren haben so deutlich gemacht, wie der Natur- und Artenschutz in NRW umfassend in allen relevanten Handlungsfeldern der Landespolitik umgesetzt werden kann.

II. Ein Handlungsprogramm für mehr Artenvielfalt

NRW erlebt einen erheblichen Verlust an Tier- und Pflanzenarten. Vor allem der Rückgang von Insekten und Vögeln führt deutlich vor Augen, dass wir in vielen Handlungs- und Politik­feldern grundlegend umsteuern müssen. Besonders dramatisch ist hierbei, dass diese Ver­luste ebenfalls und ungebremst Schutzgebiete betreffen – und damit die letzten Rückzugs­räume für eine große Vielzahl von Arten.

Notwendig ist ein breites Bündel an Maßnahmen, das weit über die Notwendigkeiten hinaus­reicht, die das Landesnaturschutzrecht fordert. Ob Landesplanung, Landwirtschaft, Forstwirt­schaft, Bauen, Wirtschaft oder Verkehr: Die Verantwortlichkeiten für einen ambitionierten Ar­tenschutz in Nordrhein-Westfalen sind über verschiedene Landesministerien verteilt. Alle müs­sen sich ihrer Verantwortung für diese gesellschaftliche Aufgabe stellen und handeln.

Für die Volksinitiative ergeben sich 8 Handlungsfelder, die von der Landespolitik angegangen werden müssen:

1. Flächenfraß verbindlich stoppen

Täglich gehen in Nordrhein-Westfalen rund zehn Hektar Fläche durch neue Wohn- und Ge­werbegebiete, Straßenbau, Tagebau, Kies-Abbau und andere Abgrabungen unwiederbringlich verloren. Landschaften werden zerschnitten, angrenzende Lebensräume gestört. Eine Fort­setzung dieses unverantwortlichen Handelns führt unweigerlich zu zusätzlichen irreversiblen Verlusten bei Tier- und Pflanzenarten. Vor allem landwirtschaftliche Flächen gehen unge-bremst verloren. Die Pachtpreise steigen stetig an, erschweren eine aus Naturschutzsicht vielerorts gebotene Extensivierung und drücken weitere bäuerliche Betriebe ins wirtschaftliche Aus.

Die Volksinitiative fordert deshalb eine neue Landesentwicklungsplanung mit Regelungen und Instrumenten, die verbindlich den Flächenverbrauch im Land bis 2025 auf maximal 5 Hektar pro Tag und bis 2035 ganz auf Null absenken. Nachverdichtung, Erschließung von Industrie­brachen (Flächenrecycling), Umnutzungen und Aufstockungen von Wohn- und Gewerbege­bäuden müssen gegenüber einer Neuversiegelung deutlich attraktiver werden und Vorrang haben. Das Land hat ein Instrument zu schaffen, das transparent und nachvollziehbar dar-und sicherstellt, dass mit dem Erreichen der genannten Obergrenzen verbindlich keine Neu­versiegelung im laufenden Jahr mehr erfolgt.

2. Schutzgebiete wirksam schützen

Naturschutz- und FFH-Gebiete, geschützte Landschaftsbestandteile und gesetzlich ge­schützte Biotope haben eine herausragende Aufgabe: Sie sollen Lebensräume und ihre Ar­tenvielfalt bewahren und fördern. Trotzdem ist es immer noch zulässig, dass auf Flächen in­nerhalb von Schutzgebieten Pestizide eingesetzt werden, die dort lebende Insekten und an­dere Tiere sowie die dort vorkommenden Pflanzen schädigen können.

Die Volksinitiative fordert deshalb ein umfassendes Verbot von chemisch-synthetischen Pes­tiziden und leichtlöslichen Mineraldüngern in Schutzgebieten. Des Weiteren sollen wirksame Pufferzonen um besonders schützenswerte Flächen mit einer klaren Reduktionsstrategie für Pestizide und Düngemittel eingerichtet werden. Neben schon bestehenden Schutzgebieten sind weitere wichtige Lebensräume, Naturflächen und Arten oder Lebensgemeinschaften dau­erhaft zu sichern. In der Umsetzung muss sichergestellt werden, dass Biolandwirtschaft und Vertragsnaturschutz hierdurch keine Nachteile entstehen.

3. Naturnahe und wilde Wälder zulassen

Wälder sind unverzichtbare Lebensräume mit eigener Dynamik und einem enormen Inventar an Pflanzen- und Tierarten. Auch als „grüne Lunge” übernehmen sie in Zeiten des Klimawan­dels wichtige Funktionen für das Allgemeinwohl. Doch 25 % der Arten des Waldes sind in Nordrhein-Westfalen bereits gefährdet oder ausgestorben. Wesentliche Ursache für die Gefährdung von geschützten Waldökosystemen in Deutschland ist das bisherige forstliche Management.

Die Volksinitiative fordert deshalb, dass das Land Nordrhein-Westfalen in seinen Staatswäldern Vorreiter für eine natürliche Waldentwicklung und Artenvielfalt wird. Dazu müssen kurz­fristig mindestens 20 % dieser Flächen aus der forstlichen Nutzung genommen werden. Dar­über hinaus sollen bis zum Jahr 2030 10 % der Gesamtwaldfläche des Landes auch nach Möglichkeit außerhalb des Staatswaldes aus der Nutzung genommen und der Weg dahin durch geeignete Landesprogramme für private und kommunale Waldbesitzer gefördert wer­den.

Des Weiteren fordert die Volksinitiative Naturverjüngung statt flächiger Aufforstungen und nur im Bedarfsfall truppweise Anpflanzung standortheimischer Arten und Sorten, den Verzicht auf Pestizide und Kalkungen sowie die Wiedervernässung von Sumpf- und Moorstandorten im Wald und den vollständigen Erhalt von Alt- und Totholz.

4. Naturverträgliche Landwirtschaft aktiv voranbringen

Fast die Hälfte der Landesfläche wird landwirtschaftlich genutzt. Über Jahrzehnte hinweg kam es hier zum Verlust von Landschaftsstrukturen und vielfältigen Standortbedingungen. Starke Düngung verdrängt zahlreiche Pflanzenarten auf nährstoffarmen Böden, Insekten und Vögeln fehlen oft Nahrung und Lebensräume. Hinzu kommt großflächig der Einsatz von Pestiziden. Gleichzeitig zeigen sowohl der Ökolandbau wie auch engagierte konventionelle Bäuerinnen und Bauern in ihrer täglichen Arbeit, dass es auch anders geht.

Die Volksinitiative fordert deshalb, dass das Land Nordrhein-Westfalen auf den eigenen Flä­chen Vorreiter für den Erhalt der Artenvielfalt wird. Dazu müssen schnellstmöglich alle Grün­land- und Ackerflächen im Eigentum des Landes nach den Grundsätzen des ökologischen Landbaus bewirtschaftet werden. Die vom Land betriebenen oder verpachteten Einrichtungen der Gemeinschaftsverpflegung (Kantinen etc.) sollen verbindlich und vorrangig Erzeugnisse aus regionalem ökologischen Anbau und regionaler extensiver Weidehaltung beziehen. Dadurch soll auch die von Bäuerinnen und Bauern geforderte stärkere Nachfrage nach um-welt- und tierschutzgerecht erzeugten Lebensmitteln dauerhaft gesteigert werden. Förderpro­gramme des Landes für Kommunen bei der Gemeinschaftsverpflegung sollen diese ebenfalls als Fördervoraussetzung festschreiben. Insgesamt sollen in Nordrhein-Westfalen bis 2030 25 % der Anbauflächen ökologisch bewirtschaftet werden.

5. Biotopverbund stärken und ausweiten

Gewässerränder, artenreiche Säume, Wiesen, Weiden, Hecken und weitere Strukturen sind unverzichtbar für die Ausbreitung und Wanderung von Arten und den genetischen Austausch. Sie müssen erhalten, zurückgewonnen und gefördert werden.

Die Volksinitiative fordert deshalb, dass das Land Nordrhein-Westfalen ein Netz miteinander verbundener Biotope (Biotopverbund) festsetzt, das bis zum Jahr 2025 mindestens 20 % der Landesfläche umfasst. Ein deutlicher Schwerpunkt soll im Offenland liegen.

6. Lebendige Gewässer und Auen sichern

Bäche, Flüsse und ihre Auen sind als Lebensräume und Wanderkorridore mit ihrer artenrei­chen und bedeutenden Pflanzen- und Tierwelt besonders schützenswert. Der ökologische Zu­stand vieler Gewässer ist besorgniserregend. Umfassende Richtlinien zur Verbesserung der Situation werden bisher nicht vollständig umgesetzt und konnten daher diese negativen Ent­wicklungen nicht umkehren.

Die Volksinitiative fordert deshalb, dass Gewässer und Auen besser geschützt und renaturiert werden. Zum Schutz von Flora und Fauna entlang von Gewässern sind bei Grünland und ackerbaulicher Nutzung Randstreifen verbindlich einzuhalten, in denen chemisch-synthetische Pestizide sowie mineralische Dünger und Gülle nicht ausgebracht werden dürfen.

7. Artenschutz in der Stadt fördern

Auch unsere Städte sind wichtiger Lebensraum für die Tier- und Pflanzenwelt. Doch die zu­nehmende Versiegelung, die künstliche Dauer-Beleuchtung und eine vielen Tierarten abträg­liche Architektur greifen immer stärker in die Lebensgemeinschaften ein. Die Lichtverschmut­zung führt zu einem erheblichen Rückgang bei Insekten, Millionen Vögel sterben jährlich durch Kollision an Glasfassaden, Mauersegler und Co. finden keine geeigneten Brutplätze mehr. Dabei gilt es, unsere Städte generell grüner und damit lebenswerter zu machen: Nicht nur für mehr Artenvielfalt, sondern auch, um die gravierenden Folgen des menschgemachten Klima­wandels abzumildern.

Die Volksinitiative fordert deshalb, dass auf Landesebene geeignete Regelungen getroffen werden, die Lichtverschmutzung verbindlich einzudämmen. Über die Landesbauordnung müs­sen klare Vorgaben zur Vermeidung von Vogelschlag an Glas- und anderen Fassaden veran­kert werden. Beim Bau neuer Gebäude sind ausreichend Vorkehrungen zu treffen, damit Ge­bäude-brütende Vogelarten ausreichend Nistmöglichkeiten erhalten. Das Land muss dabei eine Vorreiterrolle übernehmen und die Artenvielfalt an allen eigenen Liegenschaften fördern, zum Beispiel durch Fassaden- und Dachbegrünung sowie Nistkästen. Zudem muss eine Pflicht zur Verabschiedung kommunaler Baumschutzsatzungen ins Landesnaturschutzgesetz aufgenommen sowie ein verbindlicher Ausschluss sogenannter Schottergärten in der Landes-bauordnung verankert werden.

8. Nationalpark in der Senne ausweisen

Der Truppenübungsplatz Senne gehört zu den artenreichsten Naturgebieten in Nordrhein-Westfalen. Offene Heideflächen, Sandmagerrasen, Moore, Auen- und Kiefernwälder sowie naturnahe Bäche auf einer Fläche von über 10.000 Hektar prägen das Gebiet mit seiner eu­ropaweit herausragenden Fauna und Flora. Zahlreiche besonders gefährdete Arten haben hier ihre letzten Vorkommen in NRW oder in Deutschland. 1991 beschloss der Landtag einstimmig, nach Beendigung der militärischen Nutzung einen Nationalpark Senne einzurichten. 2016 hat die Landesregierung dieses Ziel im Landesentwicklungsplan festgeschrieben, im Jahr 2019 jedoch wieder gestrichen.

III.      Beschluss

Der Landtag fordert die Landesregierung auf,

– die Forderungen der Volksinitiative aufzunehmen und umgehend ein entsprechendes ‚Handlungsprogramm Artenvielfalt NRW‘ zu entwickeln, das folgende Punkte umfasst:

  • Flächenfraß verbindlich stoppen
  • Schutzgebiete wirksam schützen
  • Naturnahe und wilde Wälder zulassen
  • Naturverträgliche Landwirtschaft aktiv voranbringen
  • Biotopverbund stärken und ausweiten
  • Lebendige Gewässer und Auen sichern
  • Artenschutz in der Stadt fördern
  • Nationalpark in der Senne ausweisen,

– die für das Handlungsprogramm entsprechenden Finanzmittel im Landeshaushalt ein­zustellen,

– den Landtag über den Fortgang zu unterrichten.