Kind- und jugendgerechte Justiz als wichtiger Bestandteil des Kinder- und Jugend­schutzes – kind- und jugendgerechte Justiz jetzt schaffen!

Entschließungsantrag der Fraktionen von SPD und GRÜNEN zum Antrag der Fraktionen von CDU und FDP „Weitere Standorte in Nordrhein-Westfalen prüfen. Kindgerechte Justiz weiter verbessern.“

Portrait Josefine Paul

I. Ausganglage

Kinder und Jugendliche können bei verschiedenen Verfahren wie Scheidung, Adoption oder Gewalt mit dem Justizsystem in Berührung kommen. Dabei können sie u.a. Betroffene, Zeugin bzw. Zeuge oder auch Täterin bzw. Täter sein. Die UN-Kinderrechtskonvention (UN-KRK) schreibt das Recht von Kindern und Jugendlichen, in allen sie betreffenden Gerichts- und Verwaltungsverfahren gehört zu werden, in Artikel 12 UN-KRK fest. Deutschland gehörte 1990 zu den ersten Unterzeichnerstaaten. Am 5. April 1992 hat der Deutsche Bundestag die UN-KRK ratifiziert, damit verpflichtet Deutschland sich völkerrechtlich zur Umsetzung.

Die furchtbaren Fälle von sexualisierter und physischer Gewalt gegen Kindern und Jugendli­chen in Nordrhein-Westfalen haben den gesellschaftlichen und politischen Blick stärker auf das Thema des Kinderschutzes in Nordrhein-Westfalen gelenkt und auch die Frage aufge­worfen, inwiefern die Belange von Kindern und Jugendlichen im Rahmen von Justizverfahren berücksichtigt werden und inwieweit von einer kind- und jugendgerechten Justiz gesprochen werden kann.

Kinderrechtsorganisationen weisen darauf hin, dass nach wie vor Handlungsbedarf bei der Umsetzung einer kinder- und jugendgerechten Justiz besteht.

Die Bedeutung der kind- und jugendgerechten Justiz ist nicht nur vor dem Hintergrund eines erfolgreichen Gerichtsverfahrens zu sehen, sondern vor allem im Hinblick auf die Wahrung der Rechte und des Schutzes von Kindern und Jugendlichen. Insbesondere für die Betroffenen von sexualisierter und anderer Gewaltformen kann ein Verfahren zu einer sekundärer Viktimi-sierung und Retraumatisierung führen. Es ist daher insbesondere darauf zu achten, Verfahren so zu gestalten, dass Kinder und Jugendliche altersangemessen gehört werden, aber vor al­lem vor einer weiteren Traumatisierung geschützt werden.

Sprache im Justiz- und Verwaltungssystem bilden bei Erwachsenen häufig eine Barriere. Diese Barriere ist bei Kindern und Jugendlichen umso größer. Ihnen sind die juristischen Fach­begriffe und das formalisierte Verfahren fremd, in denen Belehrungen erteilt, Formulare aus­gefüllt und Nachfragen gestellt werden. So muss den Kindern und Jugendlichen in dem be­sonderen Setting, in dem sie sich im Rahmen von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren befin­den, durch eine kind- und jugendgerechte Sprache Sicherheit gegeben werden. Neben einer altersangemessenen Sprache braucht es auch eine altersangemessene Vernehmungssitua­tion. Solch ein Raum muss für verschiedene Altersgruppen altersangemessen ausgestattet sein. Die Stellungnahme (17/4246) von Rechtsanwältin Petra Ladenburger, die für die Anhö­rung der Kinderschutzkommission des Landtags von Nordrhein-Westfalen zum Schwerpunkt­thema „Polizei und Justiz“ eingereicht wurde, stellt fest: „Bei den spezialisierten Kriminalkom­missariaten gibt es i.d.R. kindgerecht und freundlich gestaltete Anhörungsräume, in denen junge Kinder angehört werden. Ältere Kinder oder Jugendliche werden in den jeweiligen Büroräumen der Sachbearbeiter*innen angehört.“

Mehrfachvernehmungen können bei Kindern und Jugendlichen, die von sexualisierter und physischen Gewalt betroffen waren, zu Retraumatisierungen führen. Dennoch wird noch zu wenig von einer audiovisuellen Erstvernehmung durch Ermittlungsrichterinnen und Ermitt­lungsrichter Gebrauch gemacht. Solch eine audiovisuelle Vernehmung kann die Aussage der betroffenen Kinder und Jugendlichen in der Hauptverhandlung ersetzen und so die Belastung verringern.

Das Konzept der Childhood-Häuser als Anlaufstellen, in denen verschiedene Professionen interdisziplinär zusammenarbeiten eignet sich, um Kinder und Jugendliche, die von sexuali­sierter und physischer Gewalt betroffen sind, soweit wie möglich schonend zu begleiten. Nicht nur der Ansatz, dass alle Professionen zu den betroffenen Kindern oder Jugendlichen kom­men, sondern auch die Möglichkeit der Vernehmung in einem kind- und jugendgerechten Set­ting mit der technischen Möglichkeit einer audiovisuellen Aufnahme und der Anbindung an eine medizinische und therapeutischen Versorgung, sind im Interesse von Kindern und Ju­gendlichen.

Die Dauer von Ermittlungs- und Gerichtsverfahren führt häufig dazu, dass sich Kinder und Jugendliche unter einer dauerhaften Anspannung befinden. Deswegen ist es wichtig, dass bei Verfahren mit kindlichen und jugendlichen Zeuginnen und Zeugen das Verfahren möglichst schnell durchgeführt wird, um die belastende Situation zu beenden.

Immer noch werden gesetzlichen Vertreterinnen und Vertreter von Kindern und Jugendlichen, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, eine Therapie vor dem Abschluss des Strafverfah­rens abgeraten, weil durch eine Therapie die Zeugenaussage beeinflusst werden könnte. Da­bei ist zu beachten, dass eine stabilisierende Therapie Kinder und Jugendliche stärkt und ge­mäß Artikel 3 Absatz 1 der UN-KRK das Kindeswohl vorrangig zu berücksichtigen ist.

II. Feststellungen

Der Landtag stellt fest,

  1. Kinderrechte und Kinderschutz werden durch eine kind- und jugendgerechte Justiz ge­stärkt,
  2. dass das Justizsystem in NRW im Hinblick auf eine kind- und jugendgerechte Arbeits­weise zu verbessern ist.

III. Auftrag an die Landesregierung

Der Landtag beauftragt die Landesregierung,

  1. in allen fünf Regierungsbezirken weitere Childhood-Häuser bzw. Anlaufstellen zur inter­disziplinären Begleitung von betroffenen Kindern und Jugendlichen von sexualisierter und physischer Gewalt einzurichten,
  2. in allen Kreispolizeibehörden dafür zu sorgen, dass bei Anzeigeerstattung bzw. ersten Befragungen Audioaufzeichnungen angefertigt werden, die später transkribiert werden,
  3. dafür zu sorgen, dass alle zuständigen Kreispolizeibehörden für die Vernehmung von betroffenen Kindern und Jugendlichen mit entsprechend eingerichteten Zimmern ausge­stattet sind und ihre Vernehmungen ausschließlich dort stattfinden,
  4. eine Fortbildungspflicht für Richterinnen und Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte insbesondere in den Themenfeldern Kinderschutz, Kindeswohl, Kinder­rechte und kind- und jugendgerechte Sprache unter Freistellung des Dienstes einzufüh­ren,
  5. ein Recht auf Intervision und Supervision für Richterinnen und Richter sowie Staatsan­wältinnen und Staatsanwälte einzuführen,
  6. Gerichte in NRW mit kind- und jugendgerechten Vernehmungs- und Sitzungszimmern auszustatten,
  7. bei Familiengerichten und Oberlandesgerichten Sonderzuständigkeiten für Kinderschutz zu bilden, um so Erfahrungsschatz zu Kinderschutzfällen und zum Umgang mit betroffe­nen Kindern und Jugendlichen zu bündeln,
  8. darauf hinzuwirken, dass Strafverfolgungsbehörden gesetzliche Vertreterinnen und Ver­treter von Kindern und Jugendlichen, die von sexualisierter Gewalt betroffen waren, bzw. die Kinder und Jugendlichen gegebenenfalls selbst darüber aufzuklären, dass die Mög­lichkeit, stabilisierende Therapien wahrzunehmen besteht, und wo Beratung hierzu ein­geholt werden kann,
  9. die Ermittlungs- und Gerichtsverfahren mit betroffenen Kindern und Jugendlichen zu be­schleunigen,
  10. Maßnahmen umzusetzen, wie unterschiedliche Eingänge und zeitlich gestaffelte Ladun­gen konsequent umsetzen, die betroffenen Kindern und Jugendlichen die Begegnung mit Beschuldigten ersparen,
  11. einen verbesserten Zugang zum Recht für Kinder und Jugendliche zu schaffen, u.a. kind-und jugendgerechte Rechtsberatungs- und Beschwerdestellen an Gerichten einzurich­ten sowie kind- und jugendgerechte Informationen dazu zugänglich zu machen,
  12. zu prüfen, inwiefern das Justizsystem in NRW besondere Bedarfe von Kindern und Ju­gendlichen mit Behinderungen berücksichtigt, und Änderungsvorschläge zu erarbeiten, die dem Landtag vorgestellt werden,
  13. eine Bundesratsinitiative zu initiieren, die bei kindlichen und jugendlichen Opfern von sexualisierter Gewalt eine psychosoziale Prozessbegleitung ohne Antrag beiordnet.