Ersatzfreiheitsstrafen vermeiden

Antrag der GRÜNEN im Landtag

I. Ausgangssituation

Die Ersatzfreiheitsstrafe ist eine Freiheitsstrafe, die vollstreckt wird, wenn die vom Gericht ursprünglich verhängte Geldstrafe uneinbringlich ist. Die Umrechnung der Geldstrafe in die Ersatzstrafe erfolgt momentan in einem 1:1 Verhältnis, d.h. ein Tagessatz entspricht einem Tag Freiheitsstrafe.

In den Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen saßen (vor Pandemiebeginn) jeden Tag über 1.000 Menschen eine Ersatzfreiheitsstrafe ab. Pro Jahr sind es schätzungsweise 10.000 Fälle. Bundesweit befanden sich am Stichtag 30.11.2018 10,5 % aller Gefangenen aufgrund einer Ersatzfreiheitsstrafe in Haft. Die häufigsten einer Ersatzfreiheitsstrafe zugrunde liegenden Delikte sind Schwarzfahren und Diebstahl. Jeder siebte wegen des Erschleichens von Leistungen – in den allermeisten Fällen in Form des Schwarzfahrens – Verurteilte landet über eine Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis. Bei Diebstahl ist es jeder Achte und bei Sachbeschädigung jeder Neunte.

Überproportional betroffen von Ersatzfreiheitsstrafen sind Menschen mit Multiproblem-strukturen. Die Betroffenen besitzen häufig kaum Vermögen, sind sozial randständig, 15% werden als suizidgefährdet eingestuft und es gibt eine hohe Suchtbelastungen in dieser Gruppe, um nur einige der Problemstrukturen aufzuzählen. Die Ersatzfreiheitsstrafe trifft somit in den allermeisten Fällen Menschen, die kaum Geld und bereits viele Probleme haben – Menschen mit Vermögen sind dagegen so gut wie nie von Ersatzfreiheitsstrafen betroffen. Es darf aber nicht sein, dass wir Menschen letztlich dafür bestrafen, dass sie arm sind!

Die Haftzeit hat darüber hinaus ganz überwiegend negative Effekte wie den Verlust des Arbeitsplatzes, der Wohnung und der sozialen Kontakte. In Verbindung mit der stigmatisierenden Wirkung einer Inhaftierung erhöht sich letztlich die Rückfallgefahr.

Die Justizvollzugsanstalten in Nordrhein-Westfalen sind seit Jahren überlastet. Dringend notwendige Renovierungen, Sanierungen oder Neubauten werden immer wieder aufgeschoben, da freie Hafträume fehlen, in denen die Gefangenen während des Umbaus untergebracht werden könnten. Unter diesen Bedingungen und Belastungen im Justizvollzug leiden sowohl die Bediensteten als auch die Gefangenen. Diese Belastungen könnten durch die Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen und im besten Fall täglich 1.200 Gefangene weniger deutlich verringert werden.

Für Menschen, die eine Ersatzfreiheitsstrafe absitzen, bieten sich es aufgrund der Überlastung der Anstalten und aufgrund der sehr kurzen Haftzeiten von durchschnittlich 30 Tagen kaum Möglichkeiten und Angebote der Behandlung, der Beschäftigung und der Resozialisierung. Die meisten Ersatzfreiheitsstrafen werden von den Betroffenen daher ohne Erfüllung des staatlichen Resozialisierungsauftrags schlicht abgesessen, eine nachhaltige Arbeit an den individuellen Problemen der Betroffenen ist in dieser Zeit nicht möglich. Unter diesen Umständen kann die Haftzeit keine positive Effekte für die Betroffenen mit sich bringen. Hinzu kommen die enormen Kosten jedes Hafttages, die in keinem Verhältnis zu den durch die Straftat verursachten Bagatellschäden von meist nur wenigen Euro stehen.

Überdies muss man stets bedenken, dass diese Menschen nie zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wurden. Richterinnen und Richtern haben sie ganz im Gegenteil bewusst zu einer Geldstrafe verurteilt und eine Freiheitsstrafe als nicht angemessen betrachtet. Teilweise erfolgen diese Verurteilungen in Strafbefehlsverfahren, das bedeutet, dass die Verurteilung ohne eine mündliche Verhandlung erfolgt. Daraus folgt, dass im Rahmen der Ersatzfreiheitsstrafe auch Menschen inhaftiert werden, die nie vor einem Gericht standen und nie von einer Richterin oder einem Richter angehört wurden.

Es stellt sich weiter die Frage nach dem Zweck einer Ersatzfreiheitsstrafe. Von vielen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern wird sowohl eine generalpräventive als auch eine spezialpräventive Wirkung der Ersatzfreiheitsstrafe in Zweifel gezogen. Die generalpräventive Wirkung entfällt, da nur sehr wenige Menschen das Konzept der Ersatzfreiheitsstrafe überhaupt kennen und diese somit keine abschreckende Wirkung entfalten kann. Eine spezialpräventive Wirkung muss bezweifelt werden, da vom Gericht eine Haftstrafe gerade nicht für notwendig erachtet wurde und überdies während der Haftzeit kaum Hilfs- und Unterstützungsangebote für die Betroffenen vorhanden sind.

In vielen anderen europäischen Ländern wie Dänemark, Schweden oder Italien wurde die Ersatzfreiheitsstrafe abgeschafft oder zumindest auf ein Mindestmaß reduziert. Schlechte Erfahrungen wurden mit der Abschaffung nicht gemacht, bisher wurde auch keine abnehmende Zahlungsbereitschaft hinsichtlich der Geldstrafen festgestellt.

Es muss endlich gehandelt werden, an verschiedenen Stellen und auf verschiedenen Ebenen sind eine Vielzahl von Maßnahmen nötig, um die Zahl der Ersatzfreiheitsstrafen in Nordrhein-Westfalen auf ein Minimum zu reduzieren, um vielen Menschen eine Inhaftierung zu ersparen und die Justiz sowie die Justizvollzugsanstalten endlich zu entlasten.

II. Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl verhängter Ersatzfreiheitsstrafen -vor Verurteilung

Eine erste wichtige Maßnahme, durch die die Zahl von Ersatzfreiheitsstrafen deutlich reduziert werden kann, ist die Entkriminalisierung verschiedener Straftatbestände. Dadurch werden bereits die ursprünglichen Verurteilungen (zu Geldstrafen) vermieden, die in vielen Fällen letztlich zu Ersatzfreiheitsstrafen führen.

Durch die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens werden die Amtsgerichte und Staatsanwaltschaften deutlich entlastet. Über die Hälfte aller Ersatzfreiheitsstrafen werden aufgrund von Schwarzfahrens vollstreckt. Durch die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens würden daher neben den Gerichten auch die Justizvollzugsanstalten stark entlastet werden. Das Strafrecht muss immer letztes Mittel zur Durchsetzung gesellschaftlich gebotenen Verhaltens sein. Der Ultima-Ratio-Grundsatz des Strafrechts bedeutet eine Beschränkung des Strafrechts auf den Schutz der wichtigsten Grundregeln und Rechtsgüter.

Eine weitere Maßnahme zur Vermeidung von Ersatzfreiheitsstrafen liegt in der Ausweitung und Verstärkung der aufsuchenden Sozialarbeit, um die Entstehung von Kriminalität bereits im Vorfeld zu vermeiden.

III. Maßnahmen zur Reduzierung der Zahl verhängter Ersatzfreiheitsstrafen – nach Verurteilung

Darüber hinaus müssen Maßnahmen ergriffen werden, um die Zahl der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen zu reduzieren.

Ein wichtiges Ziel muss (weiterhin) sein, freie Arbeit statt Strafvollzug zu fördern. Dafür müssten die Betroffenen und Beteiligten zunächst besser über Angebote der Freien Arbeit statt Haft informiert werden. Außerdem müssten ausreichend Arbeitsstellen vorhanden sein, die realistische Anforderungen hinsichtlich der Tätigkeit, der Entfernung zwischen Wohnort und Arbeitsstelle und der Lebensumstände an die Betroffenen stellen. Statt der derzeit fünf Stunden Arbeit sollte der Umrechnungsmaßstab generell auf drei Stunden Arbeit pro Tagessatz Geldstrafe gesenkt werden. So könnten mehr Menschen ihre Geldstrafe durch freie Arbeit ableisten und eine Inhaftierung vermeiden.

Es ist allerdings zu beachten, dass dieses sinnvolle Angebot der freien Arbeit viele Betroffene überfordert, insbesondere Menschen mit Suchterkrankung oder anderen Erkrankungen sowie solche mit starken familiären Verpflichtungen. Daher müssen weitere Maßnahmen ergriffen werden, um auch solche Betroffene zu unterstützen, für die eine Abarbeitung der Geldstrafe nicht in Frage kommt.

Dazu zählen Konzepte wie die Geldverwaltung, Ratenzahlungsangebote und der Einsatz von Fallmanagerinnen und Fallmanagern. Außerdem muss die Höhe von Tagessätzen bei Menschen mit geringem oder ohne Einkommen überdacht und in vielen Fällen abgesenkt werden, sodass die Betroffenen eine realistische Möglichkeit zur Tilgung haben. Oftmals besteht auch das Problem, dass die finanziellen Verhältnisse des Verurteilten nur unzu­reichend recherchiert und dadurch zu hohe Tagessätze verhängt werden, mit der Folge, dass die Geldstrafe aus wirtschaftlichen Gründen nicht gezahlt werden kann und es zum Vollzug der Ersatzfreiheitsstrafe kommt.

Das Absehen von Vollstreckung der Ersatzfreiheitsstrafe wegen unbilliger Härte ist in § 459 StPO ausdrücklich vorgesehen, wird aber momentan nur in einzelnen Extremfällen angewandt. Das Absehen von Vollstreckung sollte regelmäßig dann erfolgen, wenn die Betroffenen die Geldstrafe trotz Zahlungswilligkeit mit eigenen finanziellen Mitteln nicht tilgen können(, ohne unter das Existenzminimum zu rutschen).

IV. Maßnahmen zur Verkürzung und Verbesserung vollstreckter Ersatzfreiheitsstrafen

Den Betroffenen von Ersatzfreiheitsstrafen im Justizvollzug in NRW muss nach dem Day-by-day-Prinzip ermöglicht werden, durch Arbeit im Justizvollzug pro Hafttag zwei Tage der Ersatzfreiheitsstrafe tilgen zu können. Dafür muss ihnen schnellstmöglich nach Antritt der Ersatzfreiheitsstrafe ein Arbeitsplatz zur Verfügung gestellt werden.

Darüber hinaus müssen die Umrechnungspauschalen geändert werden. Die derzeitige Berechnung eines Hafttages pro Tagessatz muss geändert werden auf ein Verhältnis von

einem Hafttag pro zwei Tagessätzen, da ein Tag in Haft deutlich belastender ist als ein Tagessatz einer Geldstrafe.

Darüber hinaus muss auch die Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen im Offenen Vollzug öfter ermöglicht werden.

V. Der Landtag stellt fest:

  1. Die Ersatzfreiheitsstrafe ist ungerecht, da sie ganz überwiegend arme und bereits stark belastete Menschen trifft und so gut wie nie Menschen mit Vermögen.
  2. Durch eine Vielzahl von Maßnahmen kann die Zahl der vollstreckten Ersatzfreiheitsstrafen stark reduziert und dadurch die Betroffenen, die Gerichte und Staatsanwaltschaften sowie der Justizvollzug stark entlastet werden.

VI. Der Landtag fordert die Landesregierung auf:

  1. Sich auf Bundesebene für die Entkriminalisierung des Schwarzfahrens einzusetzen.
  2. Mehr Beratungs-, Informations- und Unterstützungsangebote zum Thema Freien Arbeit statt Strafvollzug zu schaffen.
  3. Ausreichend geeignete Arbeitsmöglichkeiten zur Ableistung der Freien Arbeit zur Verfügung zu stellen.
  4. Den Umrechnungsmaßstab auf maximal drei Stunden Arbeit pro Tagessatz abzusenken.
  5. Die Möglichkeit der Ratenzahlung von Geldstrafen sowie das dahingehende Beratungs- und Unterstützungsangebot auszuweiten.
  6. Fallmanagerinnen und Fallmanager zur Beratung und Unterstützung der von Ersatzfreiheitsstrafen Betroffenen und Gefährdeten flächendeckend einzusetzen.
  7. Sich auf Bundesebene für eine Absenkung der Tagessatzhöhen für Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach dem Zweiten und Zwölften Buch Sozialgesetzbuch und nach dem Asylbewerberleistungsgesetz auf maximal drei Euro einzusetzen.
  8. Sich auf Bundesebene für eine Ausweitung des Absehens von Vollstreckung wegen unbilliger Härte in solchen Fällen einzusetzen, in denen die Verurteilten unverschuldet zahlungsunfähig sind.
  9. Die Möglichkeit der Tilgung von Hafttagen durch Arbeit nach dem Day-by-day-Prinzip für Betroffene von Ersatzfreiheitsstrafen in allen Justizvollzugsanstalten in NRW einzuführen.
  10. Sich auf Bundesebene für die Änderung der Umrechnungspauschale vom derzeitigen Verhältnis Hafttag pro Tagessatz auf ein Verhältnis Hafttag pro zwei Tagessätze einzusetzen.
  11. Die Möglichkeit der Vollstreckung von Ersatzfreiheitsstrafen im Offenen Vollzug stärker zu fördern.